Ein paar grundsätzliche Überlegungen:
1. Was ihr im Kern befürchtet, das ist Machtmissbrauch. Wenn man aber aus Furcht vor Machtmissbrauch dem Staat keine elektronischen Überwachungsmöglichkeiten einräumen will, dann müsste man noch viel weiter gehen: Man müsste vor allem umgehend Polizei und Militär entwaffnen! Denn was könnten die im "Ernstfall" unter Missbrauch ihrer Macht nicht alles anstellen: auf friedliche Demonstranten schießen, Verhaftete foltern usw.usw. (Alles viel schlimmer als simple Überwachung, und in der Realität ja leider auch immer wieder vorgekommen.)
Aber dennoch: Niemand von den "besorgten" Bürgern erhebt eine solche Forderung nach Entwaffnung der Sicherheitskräfte. Warum nicht? Vermutlich einerseits deshalb, weil sie doch darauf vertrauen, dass in einem demokratischen Rechsstaat ein derartiger Machtmissbrauch nicht stattfindet (oder wenn es doch passiert: dass er umgehend geahndet wird). Wenn ihr aber hinsichtlich des Waffengebrauchs durch Polizei etc. so optimistisch seid (dass es keinen bzw. keinen ungeahndeten Missbrauch geben wird), wieso seid ihr dann so misstrauisch, was die Überwachung der Kommunikation betrifft?
Und der zweite mutmaßliche Grund, warum euch die Bewaffnung der Polizei nicht stört (Militär könnte strittig sein, lasse ich hier daher jetzt mal weg): Weil ihr natürlich wisst, dass es Situationen geben kann, in denen man froh ist, dass es Polizei gibt (einschließlich der entsprechenden Abschreckungswirkung). Und auch da gilt nichts Anderes für die (etwaige) Überwachung von e-mails oder Telefonaten: Wenn damit (zum Beispiel) ein Terroranschlag verhindert (oder wenigstens aufgeklärt) werden konnte, dann kann man nur froh sein, dass der Staat dieses vermeintliche Machtmittel zur Verfügung und eingesetzt hat.
2. Der Originalverfasser des von Solution-Design verlinkten Heise-Artikels (nicht der Übersetzer) kommt aus einem der Länder des arabischen Frühlings. Er schreibt nicht, aus welchem, nennt es aber ein
"Land, das allgemein als Diktatur betrachtet wird". Ja selbstverständlich haben dort ganz andere Maßstäbe zu gelten als in Deutschland oder den USA. Natürlich ist davon auszugehen, dass dort mit solchen Überwachungsmaßnahmen Missbrauch betrieben wird. Natürlich sind sie dort eine Gefahr für die Freiheit des Einzelnen. Was staatliche (militärische) Macht alles anrichten kann, sieht man ja aktuell in Ägypten.
Aber was veranlasst euch dazu, ähnliche Szenarien für westliche Demokratien (wie die EU-Staaten, die USA etc.) zu befürchten? Wenn euer Misstrauen gegen den Staatsapparat so groß (und womöglich gar berechtigt) sein sollte, dann wäre es wirklich höchste Zeit für einen Aufstand. Aber davon höre und lese ich (leider) nichts. Euch stören punktuelle Eingriffe in die Freiheit – aber das System als Ganzes (das ihr als so gefährlich und "bürgerfeindlich" anseht), das lasst ihr unangetastet. Das ist inkonsequent.
Beobachter, du hast natürlich Recht, wenn du schreibst:
ZITAT(Beobachter @ 23.08.2013, 15:26)
Auf dem Papier heisst es, in der Demokratie gehe alle Macht vom Volke aus. Aber in der Realität ist dies genau anders herum. Die Macht geht von oben aus. Und auch der Machtmissbrauch. Seien es nun Geheimverhandlungen in Hinterzimmern (mit welcher Legitimation?), um die parlamentarischen Kontrollfunktionen zu umgehen, oder der direkte Rechtsbruch der von Menschen weit oben betrieben wird um die eigenen Ziele durchzusetzen. (z.B. gezielte Dronenmorde, Mundtotmachen und Diskreditieren von missliebigen Kritikern, Schaffung von eigens kreierten Gesetzen um Repressalien gegen Kritiker, die im Normalfall nicht ohne weiteres möglich währen, möglich zu machen, auf gut Deutsch - Beeinflussung der Justiz)
Aber all das wissen wir doch auch längst ohne die angeblichen Enthüllungen von Snowden & Co. Und gegen all das (und natürlich noch Vieles mehr) müsste grundsätzlich angekämpft werden – statt dessen findet ein Personenkult um einzelne "Aufdecker" statt.
Im Prinzip kann dem herrschenden System diese Situation nur recht sein: Es gibt Kritik an ein paar Details (derzeit eben: Kommunikationsüberwachung etc.) und viel Sympathien und Emotionen zugunsten einzelner Personen (wie Snowden) – aber grundlegend in Frage gestellt wird das System nicht. Das kann mehr oder weniger reibungslos weiterlaufen wie bisher.
3. Eine (pessimistische) Überlegung, die auf den ersten Blick für eure Sichtweise spricht:
Der Verfasser des bei Heise veröffentlichten Artikels schreibt von
"Menschen, die sich um Ideen scharen, die den Status Quo destabilisieren könnten". Die sind dem jeweiligen herrschenden System natürlich in der Tat suspekt. Und ich bin überzugt davon: Wenn der status quo (= das herrschende Machstystem) ernsthaft in Gefahr wäre, dann würde der betreffende Staat tatsächlich gnadenlos durchgreifen – bis hin zum Einsatz von Waffengewalt, Folter usw. Das gilt auch für (formal) demokratische Staaten wie die USA oder Deutschland usw. Dann gäbe es wahrscheinlich auch dort Verhältnisse wie derzeit in Syrien oder Ägypten. Insofern ist (allzuviel) Vertrauen in das "westliche" System in der Tat unangebracht.
Nur:- Es ist im Westen weit und breit keine nennenswerte Gruppierung (geschweige denn Bewegung) zu sehen, die das System auch nur theoretisch-gedanklich in Frage stellt; an konkrete Aktionen – oder gar solche Aktionen, die das System tatsächlich destabilisieren könnten – ist bei uns nicht einmal im Traum zu denken. Daher halte ich das Szenario, dass der (westliche) Staat seine Bürger zwecks Systemerhalts bekämpfen könnte, für praktisch völlig unrealistisch. Wer braucht eine Peitsche, wenn die Herde ohnedies total zahm ist?
- Damit bleibt der Blick auf das Jetzt (und die absehbare Zukunft): Und da besteht eine reale Gefahr ungleich stärker zB. in der Möglichkeit eines Terroranschlags als in vermeintlichen Ambitionen des Staates, seine Bürger großflächig zu überwachen oder zu bespitzeln. Und in einer solchen Situation halte ich das (theoretisch stattfindende) Mitlesen von E-mails durch einen Geheimdienst für ein vernachlässigbares "Übel" (genau genommen für überhaupt kein Übel, soweit es uns "Normalbürger" betrifft).